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‘Demokratie’ als politischer Kampfbegriff


Wie können wir erkennen, wenn den Begriff ‘Demokratie’ missbraucht wird? In einem Kapitel des neues Buchs Sprachgewalt von David Ranan, versuchen Jonathan Rinne und ich diese Frage zu beantworten.

David Ranan stellt unseren Kapitel vor.

Ist Kim Jong-uns Demokratische Volksrepublik Korea eine Demokratie? Immerhin gibt es dort Wahlen und ein Parlament. Und die Deutsche Demokratische Republik? Warum bezeichnen sich so viele autoritäre Regime als Demokratie? Fast jede Nation behauptet von sich eine Demokratie zu sein, weil Demokratie weithin als die einzige legitime Regierungsform angesehen wird. Wenn ein Konzept der primäre Legitimierungsweg wird, dann ist es reif missbraucht zu werden. Dies gilt insbesondere für einen Begriff wie Demokratie, dessen Bedeutung vielfältig und umstritten ist. Diese Vielfalt an Bedeutungen macht es schwierig überzeugend darzulegen, dass eine Person, eine Partei oder eine Nation den Begriff tatsächlich missbraucht – und es sich nicht einfach um eine abweichende, aber ebenso legitime Bedeutung von Demokratie handelt. Die Unschärfe des Begriffs erleichtert es z.B. China zu behaupten, dass seine “sozialistische Demokratie” demokratischer ist als die “bürgerliche Demokratie” des Westens; oder der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán kann versichern, dass sein Handeln nicht antidemokratisch ist, sondern einer „illiberalen“ Form der Demokratie entspricht. Dieser Aufsatz widmet sich der schwierigen Aufgabe zu ermitteln, ab wann der Begriff Demokratie missbraucht wird, indem dargelegt wird warum sowohl die “sozialistische Demokratie mit chinesischen Merkmalen” als auch die “illiberale Demokratie” einen solchen Missbrauch darstellen.

Unser Ansatz, um trotz der Unschärfe des Begriffs einen Missbrauch feststellen zu können, baut auf der Erkenntnis auf, dass sich Demokratie nicht auf ein einziges Merkmal reduzieren lässt. Vielmehr ist Demokratie ein komplexes und vielschichtiges Konzept, das im Spannungsfeld der konkurrierenden Normen Gleichheit und Autonomie definiert wird. Diese Normen sind so weit gefasst, dass sie eine Vielzahl unterschiedlicher Formen der Demokratie zulassen. Verschiedene demokratische Regime können sie unterschiedlich interpretieren, die eine stärker betonen als die andere oder durch unterschiedliche Institutionen und Praktiken verwirklichen. Das liberal-demokratische Regime beispielsweise versucht, Gleichheit und Autonomie durch die Kombination von freien und fairen Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz zu verwirklichen. Doch dies ist nicht die einzig mögliche Verwirklichung von Demokratie. Die partizipative Demokratie etwa sieht die Beteiligung an der Entscheidungsfindung durch direktdemokratische Abstimmungen als eine Grundlage demokratischer Herrschaft vor. Um nun zu ermitteln, ob der Begriff Demokratie missbräuchlich benutzt wird, können wir die Normen Gleichheit und Autonomie als Referenz heranziehen. Dann bleibt zu beantworten: Werden sie umgesetzt, abgelehnt oder systematisch verletzt? Werden Gleichheit und Autonomie abgelehnt oder systematisch verletzt, liegt ein Missbrauch des Begriffs vor – wir behaupten die illiberale Demokratie und Chinas sozialistische Demokratie stellen solche Fälle dar.

Unser Kapitel ist nur eines von 28 politischen Kampbegriffen – von Populismus zur Wahrheit – die in diesem Buch diskutiert wird. Das Buch wurde in einer Rezension in der FAZ als “ein wichtiges Werk” bezeichnet und “einen Leitfaden für eine differenzierte politische Sprache”. Deutschlandfunk Kultur hat das Buch empfohlen an “Ihnen, mir, eigentlich jeden, der sich in der politischen Diskussion entweder einschaltet, oder sie verstehen will”.

Sprachgewalt: Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe.
2021. David Ranan (Hg.). Dietz Verlag.

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